Weniger Geld, mehr Ärger: Warum Reiche und Wildberger trotzdem Minister werden

Es ist sechs Minuten nach neun, als der Elektronikhandelskonzern Ceconomy am Montag eine Ad-hoc-Mitteilung verschickt, die an den Märkten für Verwunderung und im politischen Berlin für Aufregung sorgt. Der Vorstandsvorsitzende Karsten Wildberger werde das Unternehmen Anfang Mai verlassen, heißt es, bevor etwas ungelenk formuliert die eigentliche Nachricht folgt: „Herr Dr. Wildberger beabsichtigt, das ihm von dem designierten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Friedrich Merz, unterbreitete Angebot, das Amt eines Bundesministers im künftigen Kabinett des Bundeskanzlers zu bekleiden, anzunehmen.”
Rumms.
Wildberger wird Digitalminister, nach den Elektronik-Ketten Mediamarkt und Saturn soll der 56-Jährige nun das ganze Land digitalisieren. Die Personalie ist eine faustdicke Überraschung, den gebürtigen Gießener, der vor seiner Tätigkeit bei Ceconomy Unternehmensberater bei Boston Consulting war, hatten selbst Insider nicht auf dem Zettel.
Über die zweite – für die Wirtschaft noch weit wichtigere – Personalentscheidung war zwar seit einigen Tagen gemunkelt worden, doch auch auf sie hätte vor wenigen Wochen kaum jemand gewettet: Katherina Reiche, derzeit Chefin der Eon-Tochter Westenergie, in ihrem früheren Leben Bundestagsabgeordnete der CDU für den Wahlkreis Potsdam, wird Bundesministerin für Wirtschaft und Energie.
Mit der Entscheidung für Wildberger und Reiche hat Merz gleich zwei Versprechen aus seinem Wahlkampf eingelöst. Er sorgt für personelle Erneuerung im Kabinett. Und für mehr wirtschaftliche Kompetenz in der Bundesregierung. Außerdem hat er das Kunststück fertiggebracht, zwei als politikfern wahrgenommene Kandidaten zu nominieren, an deren Linientreue es dennoch wenig Zweifel gibt. Reiche gehörte mit Unterbrechungen zwölf Jahre dem Bundesvorstand der CDU und 18 dem Bundestag an, Wildberger ist Vizepräsident des Wirtschaftsrats der CDU.
Vor allem die Berufung des Ceconomy-Chefs gilt als Coup, denn der Manager verzichtet auf viele Freiheiten und eine Menge Geld, um sich auf das Abenteuer Digitalministerium einzulassen. Mindestens 2,8 Millionen Euro Jahresgehalt hat er ausweislich des aktuellen Geschäftsberichts zuletzt im Jahr verdient – langfristige Boni sind dabei noch nicht eingerechnet. Als Minister wird er dagegen mit jährlich 219.561 Euro entlohnt – ein Minus von mehr als 90 Prozent.
Auch die designierte Wirtschaftsministerin Reiche dürfte Gehaltseinbußen in Kauf nehmen, wenngleich in geringerem Umfang.
Anders als Wildberger kennt sie die Politik gut. Reiche hatte früh im Bundestag Karriere gemacht und bereits 2002 dem Schattenkabinett des damaligen Unionskanzlerkandidaten Edmund Stoiber angehört – mit gerade einmal 29 Jahren.

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Später wurde sie parlamentarische Staatssekretärin, erst im Umwelt-, dann im Verkehrsministerium, bevor sie 2015 der Politik den Rücken kehrte und als Hauptgeschäftsführerin beim Stadtwerkeverband VKU anheuerte.
Dessen Geschäftsführung ist ein eher politischer als ein betriebswirtschaftlicher Job, geht es doch darum, die Interessen von Versorgungsunternehmen zu vertreten, die den Kommunen gehören. Reiche verordnete dem Verband eine Digitalisierungskampagne, ließ Reisen mit Stadtwerkechefs ins Silicon Valley organisieren.
Dass der Verband aber nicht das finale Ziel ihrer Karriere sein wird, war vielen, die sie näher kennen, von vornherein klar. Auch bei der Eon-Tochter Westenergie soll sie nach Höherem gestrebt haben, ihr wurden Ambitionen für den Konzernvorstand nachgesagt. Nun zieht sie in die politische Top-Liga ein.
Dass sie ursprünglich aus dem Osten stammt und eine Frau ist, dürfte bei ihrer Auswahl eine Rolle gespielt haben - auch wenn Merz von Quoten und Proporzen offiziell nichts wissen will. Ein Insider hält noch einen anderen Punkt für entscheidend. „Sie ist extrem gut vernetzt“, sagt er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „In beide Richtungen.“ Mit „beiden Richtungen“ sind Politik und Wirtschaft gemeint, Reiche fühlt sich vor allem an deren Schnittstelle wohl.
Bei der Chemikerin komme zu einem enormen Ehrgeiz eine noch enormere Arbeitswut, die bis zum Raubbau an der eigenen Gesundheit gehen könne. Von einem ausgeprägten Hang zum Mikromanagement ist die Rede: „Sie entdeckt auf Seite 158 im Referenten-Entwurf eines Gesetzes noch einen Fallstrick, den alle anderen übersehen haben“, so ein früherer Wegbegleiter. So etwas könne dann für unmittelbar Betroffene auch ziemlich unangenehm werden.
Mit dem Wirtschaftsministerium bekommt Reiche es mit einem riesigen Apparat zu tun. Insider bezweifeln, dass da das Prinzip Mikromanagement noch funktioniert. Zudem gibt es eine Art Schattenministerium: die Bundesnetzagentur, die in den vergangenen Jahren ein großes Eigenleben entwickelt hat und an dessen Spitze mit Klaus Müller auch noch ein ehemaliger Grünen-Politiker steht. „Wie das einvernehmlich funktionieren soll, ist nur schwer vorstellbar“, sagt ein Beobachter.
Das Pflichtenheft der neuen Ministerin ist anspruchsvoll: Neue Gaskraftwerke, neue Stromleitungen und eine neue Wasserstoff-Infrastruktur müssen in den kommenden Jahren entstehen. Beim Wasserstoff immerhin hat Reiche Vorkenntnisse. Ist sie doch (noch) Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates. Und Reiche, die Mutter von drei Kindern ist, hat privat einen Ratgeber an ihrer Seite, der das Wirtschaftsministerium an der Scharnhorststraße gut kennt: Sie ist mit dem einstigen Hausherrn Karl-Theodor zu Guttenberg liiert.
Aus der Wirtschaft gibt es für beide Personalien vorsichtiges Lob - verknüpft mit hohen Erwartungen. „Frau Reiche kennt die Herausforderungen auf Seiten der Politik ebenso wie auf Seiten der Wirtschaft und der Verbände und weiß um die Bedeutung des Dialogs“, sagte BDEW-Chefin Kerstin Andreae dem RND. Essentiell sei nun eine frühzeitige Einbindung der Branche in Gesetzgebungsprozesse.
Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energie, bezeichnete Reiche als „erfahrene Energiepraktikerin“, mahnte aber auch an, dass keine Brüche bei zentralen Klimaschutzmaßnahmen riskiert werden dürften.
Beim Handelsverband Deutschland (HDE) stößt auf Wohlwollen, dass der designierte Digitalminister die Sorgen und Nöte der Einzelhändler kennt. „Wir finden es grundsätzlich positiv, dass jemand in politische Verantwortung kommt, der die Bedürfnisse des Handels aus der Praxis richtig einschätzen kann und Erfahrung aus dem Unternehmensalltag in das politische Amt mitbringt“, sagte HDE-Sprecher Stefan Hertel dem RND.
Dass beide Kandidaten neben der wirtschaftlichen Kompetenz auch das politische Fingerspitzengefühl für die großen Aufgaben mitbringen, müssen sie nun beweisen.
rnd