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Ein unzufriedener Nachbar reicht und das Bauprojekt stirbt – wie Einsprachen zu Wohnungsnot führen

Ein unzufriedener Nachbar reicht und das Bauprojekt stirbt – wie Einsprachen zu Wohnungsnot führen

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Verdichtung mit Hindernissen: Selbst gute Wohnbauprojekte scheitern oft an Einsprachen.

Was viele Bauherrschaften und Architekten seit Jahren beklagen, belegt nun eine breit abgestützte Studie: Einsprachen und Baurekurse sind heute der Hauptgrund dafür, dass in der Schweiz zu wenig und zu langsam gebaut wird. Die Folge: Verzögerungen, Mehrkosten und steigende Mieten – und in vielen Fällen ein kompletter Projektstopp.

In Auftrag gegeben haben die Untersuchung das Bundesamt für Raumentwicklung und das Bundesamt für Wohnungswesen. Die Ergebnisse wurden am Dienstag in Bern präsentiert. Die Studie ist Teil des Aktionsplans gegen Wohnungsknappheit, den der Bundesrat nach mehreren runden Tischen ins Leben gerufen hat.

Ein bekanntes Problem – mit Zahlen belegt

Die Resultate fallen deutlich aus. Der allergrösste Teil der befragten Fachleute im Wohnungsbau bestätigt: Einsprachen führen in der Praxis nicht etwa zu besseren Bauprojekten, sondern in erster Linie zu Verzögerungen, höheren Kosten – und schliesslich zu weniger Wohnungen.

Rund 80 Prozent der befragten Experten berichten, dass Einsprachen Projekte verzögern; 70 Prozent sehen dadurch eine Verteuerung. Und fast jeder zweite sagt: Die Einsprachen hätten dazu geführt, dass weniger gebaut werde – sei es bei der Wohnfläche oder der Zahl der Wohnungen.

Doch das ist längst nicht alles. Wer hofft, dass sich wenigstens an der architektonischen oder städtebaulichen Qualität etwas verbessert, wird enttäuscht: Nur zwei Prozent meinen, die Architektur sei durch eine Einsprache aufgewertet worden. Drei Prozent finden, die Vermarktbarkeit habe sich verbessert.

Der weit überwiegende Teil sieht jedoch keinen positiven Effekt. Im Gegenteil: Viele Bauherren und Architekten berichten von der frustrierenden Erfahrung, dass Einsprachen zum strategischen Instrument geworden seien – nicht zum Schutz öffentlicher Interessen, sondern zur Durchsetzung privater Vorteile.

Die Untersuchung stützt sich auf zwei Hauptquellen: eine rechtliche Analyse der Beschwerdemöglichkeiten und eine Befragung von rund 440 Fachpersonen – darunter Architekten, Bauherren, Projektentwickler, Juristen und Vertreter von Behörden.

Um das ganze Ausmass der Problematik zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Ausgangslage: Eine Bauherrschaft, die jahrelang für ein Projekt geplant, Gutachten erstellt, Wettbewerbe durchgeführt und schliesslich eine rechtskräftige Genehmigung erhalten hat, kann sich keineswegs in Sicherheit wiegen. Denn die Möglichkeit, gegen missliebige Vorhaben Einsprachen zu erheben, ist in der Schweiz weit gefasst.

Ein Wohnbauprojekt im Zürcher Brunaupark wurde zunächst aus Lärmschutzgründen, später wegen denkmalpflegerischer Einwände blockiert.
Man muss nur im Umkreis von 100 Metern wohnen

Brisant ist die gängige Gerichtspraxis. Seit gut zehn Jahren akzeptiert das Bundesgericht Einsprachen selbst dann, wenn die gerügte Rechtsverletzung den Einsprecher gar nicht persönlich betrifft.

Etwas vereinfacht gesagt: Es reicht aus, dass das Argument geeignet ist, das Projekt zu stoppen – unabhängig davon, ob der Einsprechende tatsächlich tangiert ist oder ein «schutzwürdiges» Interesse hat. Verlangt wird lediglich, dass der Einsprechende in der Nähe des Bauvorhabens wohnt – in der Regel bis 100 Meter davon entfernt.

Was das in der Praxis bedeutet, zeigen zwei exemplarische Fälle: Die geplante Umnutzung eines Altbaus wird blockiert, weil sich jemand über die Farbe von Fensterrahmen empört – obwohl diese von der eigenen Adresse aus nicht einmal sichtbar sind. Oder eine Asylunterkunft wird verhindert mit der Begründung, die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner wären übermässigem Strassenlärm ausgesetzt. Der Einsprecher selbst ist aber vom Lärm völlig unberührt. Formal sind solche Rekurse zulässig. Doch genau das ist das Problem.

Joëlle Zimmerli, Mitautorin der Studie, formuliert es deutlich: «Es ist allzu leicht, komplexe und aufwendige Verfahren mit Ergebnissen aus Architekturwettbewerben zu verhindern und Einwände dagegen vorzubringen.» Besonders bei grossen städtischen Verdichtungsprojekten, die von öffentlichem Interesse wären, sei die Blockadewirkung frappant. Zimmerli plädiert dafür, das öffentliche Interesse an qualitativ hochwertigen Projekten rechtlich besser zu verankern.

Egoismus statt öffentliches Interesse

Alain Griffel, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, hat den Handlungsbedarf längst erkannt und fordert insbesondere eine andere Praxis der Gerichte. «Die Grenze zum Rechtsmissbrauch ist erreicht», schrieb er schon 2022. Problematisch ist aus seiner Sicht vor allem die Tatsache, dass praktisch jedes beliebige Thema zu einer Einsprache berechtigt und eben nicht nur «schutzwürdige Interessen».

Was aber zählt als schutzwürdig? In der Theorie geht es um persönliche Betroffenheit – etwa durch Lärm, Schattenwurf oder Immissionen. In der Praxis allerdings greifen auch völlig abstrakte Argumente, etwa gestalterische Einwände oder formale Details. Und gerade das öffnet der missbräuchlichen Einsprache Tür und Tor.

Wer eine Einsprache erhebt, lässt sich den Rückzug nicht selten vergolden. Projektentwickler können ein Lied davon singen: So kommt es regelmässig vor, dass Rekurrenten ihre Beschwerde nur gegen eine Zahlung von Zehntausenden Franken zurückziehen. Das Einspracherecht wird so zu einem einträglichen Geschäftsmodell – ein Aspekt, der in der Studie allerdings kaum kritisch beleuchtet wird.

Kosten gerechter verteilen

Deutlich zeigt die Untersuchung hingegen, wie einseitig heute die Risiken verteilt sind. Während Bauherrschaften mit Verzögerungen, Mehrkosten und Planungsunsicherheit zu kämpfen haben, tragen Rekurrenten kaum ein Risiko. Weder sind sie zur Kostenbeteiligung verpflichtet, noch haften sie für allfällige Schäden.

Zwei Drittel der Befragten fordern deshalb: Wer missbräuchlich rekurriert, soll künftig für die Folgen mitverantwortlich gemacht werden können – etwa über Kostenauflagen oder Schadenersatzforderungen.

Rechtsmissbrauch schwer zu definieren

Unter dem Titel «Empfehlungen» fordern die Studienautoren darüber hinaus, den Rechtsmissbrauch gesetzlich «griffig» zu definieren. Doch wie realistisch ist das? Alain Griffel bleibt skeptisch. «Das ist gänzlich blauäugig und dürfte zu nichts führen», warnt der Professor. Niemand werde in einer Beschwerdeschrift offen Geld verlangen und gleichzeitig mit Projektverzögerung drohen. Stattdessen würden vorgeschobene Einwände formuliert, etwa zur Gestaltung oder zum Denkmalschutz.

Rekurrenten und ihre Anwälte sind in der Regel clever genug, dass ihnen der Missbrauch kaum je eindeutig nachgewiesen werden kann. «Dementsprechend gehen auch Schadenersatzklagen ins Leere», so Griffel.

Die Studie des Bundes nennt weitere Reformvorschläge. Die Legitimation zur Einsprache soll enger gefasst werden: Nur wer «direkt und besonders» betroffen ist, soll noch rekurrieren dürfen.

Politische Vorstösse

Das ist keineswegs eine neue Idee, zumal Alain Griffel genau dies schon seit Jahren fordert. Gestützt auf seine Publikation hat der Ständeratspräsident Andrea Caroni (FDP) letztes Jahr ein Postulat eingereicht («Einsprachen sind wieder auf schutzwürdige Interessen zu beschränken»).

Auch der Bundesrat will das Thema aufnehmen. Stephan Scheidegger, Vizedirektor des Bundesamtes für Raumentwicklung, sagte in Bern: «Wir werden bis Ende Jahr Berichte zu den relevanten parlamentarischen Vorstössen vorlegen.»

Gesetzesänderungen wären aber frühestens in einigen Jahren möglich. Bis dahin bleibt die Situation bestehen: Einsprachen lassen sich leicht einreichen – oft auch ohne irgendeine Betroffenheit. Und Bauprojekte, die dringend benötigten Wohnraum schaffen würden, geraten weiter ins Stocken.

nzz.ch

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