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Bei uns drohen keine grossflächigen Stromausfälle, sagen Fachleute. Doch so einfach ist es nicht

Bei uns drohen keine grossflächigen Stromausfälle, sagen Fachleute. Doch so einfach ist es nicht

Illustration Olivia Meyer / NZZ

Kurz nachdem ein grossflächiger Stromausfall fast die gesamte Iberische Halbinsel lahmgelegt hatte, wiesen Fachleute ein solches Szenario für Mitteleuropa schon zurück.

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Der Präsident der Bundesnetzagentur Klaus Müller hielt einen Blackout in Deutschland für «sehr unwahrscheinlich». Sollte einmal eine Leitung ausfallen, könne eine andere einspringen. Ausserdem gebe es genügend Kraftwerke, die im Notfall anspringen könnten, ohne extern mit Strom versorgt zu werden. Deutschland, sollte das heissen, ist vorbereitet. Kein Grund zur Panik.

Ähnlich klang es in der Schweiz. Ein Stromausfall sei möglich, hiess es, nur beträfe er wohl kaum das ganze Land.

Aber stimmt das tatsächlich? Muss man sich wirklich keine Sorgen machen?

Fachleute, mit denen die NZZ gesprochen hat, sehen es anders. Insbesondere für Deutschland sehen sie Risiken, die mittelbar auch die Schweiz betreffen könnten.

Mit den Erneuerbaren ändert sich die Gleichung

Da wäre zuerst die Energiewende, die in vielen Ländern die Anfälligkeit des Stromnetzes für Schwankungen massiv erhöht hat. Dazu muss man wissen, dass es bei der Energieversorgung auf eines ganz besonders ankommt: das Gleichgewicht. Die Stromerzeugung muss immer dem Verbrauch entsprechen. Wenn die Bürger am Mittag die Klimaanlagen in ihren Häusern anwerfen, schalten Techniker auf dem Leitstand Kraftwerke hinzu. Zur Schlafenszeit, wenn der Stromverbrauch sinkt, nehmen sie Leistung vom Netz.

Geht dieses Gleichgewicht verloren, schalten sich Kraftwerke im Notfall von selbst ab, um keinen Schaden zu nehmen. Das kann zu einer gefürchteten «Kaskade» führen, und schliesslich zum Blackout. Christian Dörr vom Hasso-Plattner-Institut vergleicht es gegenüber der NZZ mit Fahrradfahren an einem Berg. Man muss ordentlich in die Pedale treten, um den Berg hochzukommen. Sonst fällt man irgendwann vom Rad.

Zu Zeiten eines konventionellen Energiesystem war es kein Problem, das Stromnetz im Gleichgewicht zu halten. Man baute Grosskraftwerke in der Nähe der Städte und Industriezentren und verlegte Stromkabel dorthin. Wenn der Verbrauch sank, heizte man den Kohlenmeilern eben weniger ein oder klemmte Kraftwerke ab. Aber mit den Erneuerbaren ändert sich die Gleichung. Die Schwankungen nehmen zu, weil es vom Wetter abhängt, ob Windräder oder Solardächer Strom erzeugen können.

Nun kommen aus Sicht der Fachleute noch hausgemachte politische Probleme hinzu. Herbert Saurugg, Präsident der Gesellschaft für Krisenvorsorge, sagt der NZZ: «Die ganze Energiewende ist nicht zu Ende gedacht.» Erst habe man in vielen Ländern mit grossem Eifer die Erneuerbaren ausgebaut. Dann aber habe man es versäumt, die Speicher und Netze auszubauen.

Deutschland nutzt seine Nachbarstaaten als Speicher

Insbesondere in Deutschland kommt noch etwas hinzu: Die Politik schaltet mit Nachdruck konventionelle Kraftwerke ab, zuerst Kernkraftwerke, nun Kohlenmeiler; 2024 allein gingen 15 vom Netz. Saurugg drückt es so aus: «Man sprengt Kraftwerke, noch bevor man überhaupt eine Lösung hat.» Das Ergebnis ist ein Stromnetz, das ohne die Nachbarstaaten kaum mehr funktionieren würde. Das schafft neue Anfälligkeiten.

Im Winter müssen diese Nachbarn Deutschland mit Strom beliefern, wenn an windstillen, dunklen Tagen die Produktion der Erneuerbaren einbricht. Wegen einer solchen «Dunkelflaute» schnellte der Strompreis im Dezember 2024 am Spotmarkt selbst in einigen Nachbarländern kurzzeitig in astronomische Höhen, insbesondere in Schweden und Norwegen. Denn diese Länder belieferten Deutschland mit Strom, er wurde also für die heimischen Verbraucher knapp.

Ein grosses Problem ist mittlerweile aber auch die «Hellbrise». Das sind Tage, an denen der Wind so kräftig weht und die Sonne so lange scheint, dass zu viel Strom ins Netz eingespeist wird. Deutschland muss Nachbarländer dann immer häufiger dafür bezahlen, dass sie ihn abnehmen.

Zugespitzt kann man sagen: Deutschland nutzt die Nachbarstaaten im Winter als Speicher und im Sommer als Abnehmer. All das steigert laut Saurugg die Anfälligkeit des Stromnetzes. Im schlimmsten Fall können Hellbrisen und Dunkelflauten zu sogenannten Brownouts führen. Dann wird ein Teil der Verbraucher für einige Stunden vom Stromnetz abgeklemmt, um Schlimmeres zu verhindern.

Man kann die Probleme auch am Redispatch sehen. Damit sind Eingriffe gemeint, um Überlastungen zu vermeiden. Mal müssen im Norden Windräder abgeregelt werden, weil der Strom nicht in den Süden transportiert werden kann, mal müssen im Süden Gaskraftwerke hochgefahren werden, um Knappheiten auszugleichen. Meist beides gleichzeitig. Diese Eingriffe haben in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen.

Ähnliche Probleme gibt es in anderen europäischen Ländern. Laut einer Analyse von Rystad Energy von Dienstag hat Spanien aufgrund der hohen Produktion von Erneuerbaren und des mangelnden Netzausbaus mittlerweile enorme Probleme, Schwankungen auszugleichen. Der geplante Atomausstieg wird das Problem nach Ansicht der Experten noch verstärken. In Portugal habe die «komplette Abhängigkeit von Importen die mangelnde Flexibilität und Speichermöglichkeiten noch einmal unterstrichen», heisst es in der Analyse. Noch dramatischer ist eine Analyse von Ember Energy. Sie kommt zu dem Schluss, dass in 11 von 25 europäischen Staaten die Ausbaupläne für Stromnetze nicht übereinstimmen mit den Zielen für den Ausbau der Wind- und Sonnenkraft.

Wenn nun all diese Länder so wie Deutschland immer schneller konventionelle Kraftwerke abschalten wollen, gibt es ein Problem. Denn dann müssen auch sie in Überschusszeiten zunehmend Strom exportieren und in Mangellagen importieren. In einem solchen Szenario ist für Saurugg die Katastrophe vorprogrammiert. «Wenn ich die Vernetzung immer weiter steigere, ohne entsprechende Sicherheiten zu schaffen, dann ist in der Systemwissenschaft klar, was passiert: Langfristig führt das zum Zusammenbruch», sagt er.

Das könnte sich dann auch auf die Schweiz auswirken. Käme es in Deutschland und den Nachbarländern zu grossflächigen Ausfällen, könnten auch die Eidgenossen unter Schwankungen leiden. Die müssten sie dann ausgleichen. Aber die Schweiz ist dank ihren Bergen besser auf solche Schocks vorbereitet. Ihre Pumpspeicherkraftwerke können in solchen Fällen gegensteuern.

Auch Cyberangriffe sind ein wachsendes Problem

Doch nicht nur der einseitige Ausbau der Erneuerbaren stellt eine Gefahr dar, sondern auch Cyberangriffe. Eurelectric, der europäische Dachverband der Strombranche, warnte erst im Februar davor, dass die europäische Energieinfrastruktur zunehmend durch Cyberangriffe gefährdet sei.

Allein zwischen 2020 und 2022 habe sich die Zahl solcher Angriffe verdoppelt, befand eine Studie aus dem Jahr 2022, die von dänischen Energieunternehmen in Auftrag gegeben worden war. Im Jahr 2015 wurde der erste Angriff auf ein europäisches Energieunternehmen in der Ukraine durchgeführt. Seither «gab es jedes Jahr erfolgreiche Cyberangriffe auf ein europäisches Energie- oder Versorgungsunternehmen».

Die Hacker hätten unter anderem die Fernsteuerung von Windparks deaktiviert und Prepaid-Zähler ausser Betrieb gesetzt. Auch mit einer solchen Attacke kann man Stromausfälle verursachen. Die Gefahr nimmt zu, je stärker die Vernetzung zunimmt.

Christian Dörr vom Hasso-Plattner-Institut nennt ein Beispiel aus Deutschland: Der Verteilnetzbetreiber kann durch das Solarspitzengesetz auf Solarpanels in Haushalten zugreifen und sie notfalls vom Netz abklemmen. Das sei zwar sinnvoll, um Überlastungen zu vermeiden, sei aber auch ein Einfallstor für Cyberangriffe. Es müsse nur ein einzelner Hacker in die Systeme des Netzbetreibers eindringen – und schon könne er enorme Schwankungen verursachen. Dazu kommt: Viele Daten lagern auf chinesischen Servern. Darüber werde viel zu wenig gesprochen, sagt Dörr.

Die Angriffsfläche ist gross

Mit der Energiewende nimmt auch die Anfälligkeit für Cyberattacken zu. Der Strom kommt aus allen Richtungen, Elektrizität fliesst nicht mehr nur wie auf einer Einbahnstrasse von einzelnen Kraftwerken über Trassen zu den Verbrauchern, sondern von überall durch das ganze Land. Er kommt aus zig Tausenden von Solarpanels auf dem Dach, von Windturbinen auf dem Land oder auf See.

Das stellt die Netzbetreiber und Energieunternehmen vor neue Herausforderungen. Sie koordinieren die Stromflüsse zunehmend mithilfe digitaler Technologien und Steuerungssysteme, künstlicher Intelligenz und von Datenanalysen in Echtzeit. So gewährleisten sie die Netzstabilität. Im Zuge dieser Entwicklung nehme aber auch die Grösse der Angriffsfläche zu, also der «potenziellen Zugangspunkte für feindliche Akteure», sagt Eurelectric.

Die Angriffsfläche für Cyberkriminelle ist mittlerweile gross, sei es über Smart Meter, Sensoren oder automatisierte Kontrollsysteme. Hinzu kommen Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und Solaranlagen, die ans Netz angeschlossen werden. Die Geräte machen das System noch einmal komplexer und potenziell leichter angreifbar.

Energieunternehmen warnen seit Jahren vor steigenden Risiken, inzwischen wappnen sie sich auch dagegen. Das Schweizer Stromunternehmen Axpo eröffnete beispielsweise im Dezember eine neue Leitstelle mit dem Ziel, Angriffe auf die Stromversorgung und weitere kritische Dienstleistungen abzuwehren.

Dort halten Experten nun nach Angriffen auf Maschinen, Stromnetze oder Verkehrsinfrastruktur Ausschau. Im Ernstfall greifen sie ein.

Es braucht grundlastfähige Kraftwerke

Was also tun, um Stromausfälle in Zukunft zu vermeiden? Der Krisenexperte Saurugg fordert eine realistischere Energiewende unter Einschluss aller Technologien, auch der Atomkraft. Bei 70 Prozent Erneuerbaren im System sollte aus seiner Sicht Schluss sein. Den Rest könne man beispielsweise mit neuen Kleinreaktoren abdecken, sogenannten Small Modular Reactors, oder mit fossilen Kraftwerken, deren Treibhausgase im Boden verpresst werden.

Solche Kraftwerke minderten die Kosten des Netzausbaus und der Speicher. Wie wertvoll grundlastfähige Kraftwerke waren, sah man auch beim jetzigen Stromausfall auf der Iberischen Halbinsel. Die französischen Atomkraftwerke spielten beim Neustart des spanischen Energiesystems eine entscheidende Rolle.

Vor allem aber plädiert Saurugg dafür, das Stromnetz zu dezentralisieren. Es sollten kleine Einheiten mit einem Durchmesser von bis zu sechzig Kilometern entstehen, die sich autark versorgen können. Das erhöhe die Resilienz.

Auch bei der Cybersicherheit muss sich einiges tun. Laut der Internationalen Energieagentur geht es nun vor allem darum, die notwendigen Abwehrfähigkeiten zu entwickeln, Experten innerhalb der betroffenen Unternehmen auszubilden, Investitionen in Sicherheitsvorkehrungen zu tätigen und den Informationsaustausch mit anderen Unternehmen zu stärken. Sonst lassen sich Angriffe in Zukunft womöglich nicht mehr so leicht abwehren. Die Folgen, das sehen nun alle, können dramatisch sein.

nzz.ch

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