Könnte der Schuldenberg, den die Welt gerade anhäuft, zu einer Revolution führen? Die Geschichte sagt: durchaus möglich


Sie wachsen und wachsen, die Schuldenberge, obwohl ständig vor ihnen gewarnt wird. Die grösseren westlichen Staaten scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, Einnahmen und Ausgaben auszugleichen. Im laufenden Jahr beträgt das Budgetdefizit in Deutschland 4 Prozent, in Frankreich und Grossbritannien über 5 Prozent und in den USA gar über 6 Prozent.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Auch China hat enorme finanzpolitische Probleme. Offiziell beziffert die chinesische Regierung das Budgetdefizit auf 4 Prozent. Berücksichtigt man jedoch auch alle Ausgaben für die soziale Sicherheit und die Infrastruktur, dürften es etwa 10 Prozent sein. Nicht nur Demokratien, sondern auch Diktaturen haben Schwierigkeiten, ihre finanziellen Versprechungen mit Steuereinnahmen zu finanzieren.
Gewiss, die Defizite der westlichen Länder haben auch mit der Aufrüstung zu tun. Insofern handelt es sich um ausserordentliche Ausgaben in ausserordentlichen Zeiten. Doch die strukturellen Defizite bestehen schon lange.
Überschuss nur dank MobilfunklizenzenFrankreich hatte 1974 zum letzten Mal einen Budgetüberschuss. Grossbritannien schrieb seit 1971 nur fünfmal schwarze Zahlen, wobei der letzte Überschuss von 2021 nur dank ausserordentlichen Einnahmen aus dem Verkauf von Mobilfunklizenzen zustande kam.
Ähnlich sieht es bei den USA aus: Seit Mitte der 1970er Jahre verzeichnet die Grossmacht immer ein Defizit – abgesehen von der Hochkonjunkturperiode von 1998 bis 2001.
Selbst Deutschland hat ein strukturelles Problem. Von 1962 bis 2013 hat Berlin nur dreimal einen Finanzierungsüberschuss erzielt, und die Überschüsse von 2014 bis 2019 waren alles andere als nachhaltig, kamen sie doch nur dank einer drastischen Senkung der staatlichen Investitionen zustande. Heute muss Deutschland dieses Versäumnis mit hohen Defiziten wieder ausgleichen.
Warum haben die warnenden Stimmen keine Wirkung? Die Antwort ist einfach: Die Fehler von heute rächen sich erst mit einer grossen Verzögerung, alle unangenehmen Entscheidungen lassen sich vertagen. Umso erbarmungsloser straft der Ausbruch einer Schuldenkrise die gerade amtierenden Politiker ab.
Die Nemesis ist oft so gewaltig, dass die finanzpolitischen Verwerfungen ein politisches Erdbeben, ja sogar eine Revolution auslösen. Die Geschichte sollte eigentlich als Abschreckung dienen. Immer wieder haben Schuldenkrisen die Weltgeschichte auf eine abschüssige politische Bahn geschickt.
Ökonom warnte 13 Jahre vor der Französischen RevolutionDas klassische Beispiel ist die Französische Revolution. Frankreich verzeichnete seit Jahrzehnten ein strukturelles Defizit, weil es ständig kostspielige Kriege anzettelte und verlor. Im Mai 1789 rief deshalb der französische König die Vertreter der drei Stände nach Versailles, um ein finanzpolitisches Sanierungsprogramm zu beschliessen.
Einen grösseren Fehler hätte er nicht machen können, denn er schuf mit dieser Ständeversammlung ein Forum, bei dem sich alle Unzufriedenen über Wochen hinweg an einem Ort austauschen und organisieren konnten. Die bürgerlichen Oppositionellen hatten nie im Sinne, dem König zu helfen, sondern brachten ganz andere Pläne mit nach Versailles. Auch Adel und Klerus hatten kein Interesse, dem König aus der Patsche zu helfen.
Wer also die Französische Revolution nur mit den aufklärerischen Ideen oder der schlechten Ernte im Winter 1788/89 erklären will, hat nur teilweise recht. Der konkrete finanzpolitische Anlass war genauso wichtig, und die Zeitgenossen wussten um die Bedeutung der Finanzreform für das Überleben der Monarchie.
Bereits Mitte der 1770er Jahre hatte der französische Finanzminister Turgot, einer der brillantesten Ökonomen seiner Zeit, vor dem Eintritt in den amerikanischen Bürgerkrieg gewarnt. 1776 schrieb er dem König: «Der erste Kanonenschuss wird den Staat in den Bankrott treiben.»
Turgot wurde im selben Jahr entlassen, zwei Jahre später trat Frankreich in den Krieg ein, und nach Ende des gewonnenen Kriegs war das Land kurz vor dem Staatsbankrott. Heute wie damals war eine Staatsschuldenkrise kein schwarzer Schwan, ein unvorstellbares und vollkommen überraschendes Ereignis.
Autoritäre Wende möglichWerden die wachsenden Schuldenberge im 21. Jahrhundert ebenfalls zu grossen politischen Umwälzungen führen? Eine Schuldenkrise könnte durchaus mit einem Strukturbruch verbunden sein. Denn wenn die westlichen Regierungen den Staatshaushalt sanieren wollen, werden sie in manchen Ländern zu Notmassnahmen greifen müssen, um die demokratische Blockade zu überwinden.
Frankreich ist längst an diesem Punkt: Eine Sperrminorität von Linken und Rechten verhindert jede Reform. Könnte es sein, dass Paris einmal mehr zum Ausgangspunkt von grossen Unruhen wird? Eine Revolution wird es kaum geben, aber eine autoritäre Wende wird immer wahrscheinlicher.
Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.
nzz.ch