INTERVIEW - SIX-Präsident Thomas Wellauer stärkt Sergio Ermotti den Rücken: «Der Finanzplatz braucht eine international erfolgreiche UBS»


Der Ausblick aus dem Büro von Thomas Wellauer ist vor allem eines: grau. Vor dem Verwaltungsratspräsident der SIX Group erstreckt sich die Betonwüste des Industriequartiers Zürich-West. Wellauer hat einen erstklassigen Ausblick auf die Hardturm-Brache, wo sich die Besetzerszene nach der Schliessung des Koch-Areals niedergelassen hat. Für eine Infrastrukturbetreiberin wie die SIX Group ist die Umgebung gar nicht so unpassend: Genauso wie das immer noch nicht gebaute Fussballstadion auf dem Hardturm ist auch die Schweizer Börse eine ewige Baustelle.
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Herr Wellauer, Sie haben Ihren Rücktritt angekündigt – warum gerade jetzt?
Ich bin 2020 mit einem klaren Mandat angetreten: die SIX gemeinsam mit dem Verwaltungsrat und dem Management strategisch wie operativ für die Zukunft aufzustellen. Das haben wir erreicht: Bei meinem Antritt wuchs die SIX praktisch nicht. Heute liegen wir bei etwa vier Prozent Wachstum und einer doppelt so hohen Betriebsmarge wie vor fünf Jahren. Gleichzeitig konnten wir die Konzernleitung erneuern und internationaler ausrichten.
Ist der Rücktritt Ihre eigene Entscheidung, oder gab es Druck auf Sie?
Das war meine eigene Entscheidung. Für mich ist das ein logischer Moment. 2026 steht die Gesamterneuerung des Verwaltungsrats an. Ich konnte zwei Amtsperioden erfolgreich abschliessen. Es kommt hinzu: Ich werde dieses Jahr 70. Auch persönlich stimmt für mich der Zeitpunkt.
Freuen Sie sich darüber, dass die Aktienkurse an Europas Börsen dank Donald Trumps Chaos-Politik erstmals seit langem wieder etwas aufholen gegenüber den Amerikanern?
Nein, nicht wirklich. Ich halte es für wichtig, dass die USA ihre Führungsrolle in der Welt behalten. Europa steht vor eigenen Herausforderungen: Hier wurde jahrelang unterinvestiert – in Verteidigung, Infrastruktur, Energieversorgung, Digitalisierung. Stattdessen haben europäische Länder den Sozialstaat ausgebaut.
Das führte dazu, dass Anleger lieber in den USA investierten.
Teilweise, dazu kommt: Die EU ist im Kern ein Sparermarkt. Das ist eine grosse Herausforderung. Aus meiner Sicht müssen die Bürger der Europäischen Union ihr Verhalten verändern – weg vom reinen Sparen, hin zu einem Investieren.
Das ist ein hehres Ziel. Wie kann es erreicht werden?
Die geplante Spar- und Investitionsunion der EU ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Es braucht neue Kategorien von Anlageprodukten, die Aktiensparen steuerlich attraktiver machen. Es gibt aber noch ein anderes Problem: Heute gibt es in jedem EU-Land Unterschiede bei der Regulierung von Börsengängen oder der Börsen selbst. Wer Kapitalmarktintegration ernst meint, muss diese Fragmentierung überwinden. Das bedeutet, dass EU-Staaten in dieser Hinsicht einen Teil ihrer Souveränität abgeben müssen.
Gleichzeitig wollen Sie, dass die Schweiz eine unabhängige Finanzmarktinfrastruktur behält. Das ist doch ein Widerspruch.
Die Schweiz hat sich anders entwickelt als die EU. Wir haben bereits eine konsolidierte Finanzmarktinfrastruktur, die sich sehr bewährt hat. Zudem reguliert die Schweiz ihre Börse mit viel mehr Praxisnähe und Selbstregulierung – wie auch zum Beispiel die USA, Japan oder Singapur, die alle auf Selbstregulierung setzen. Die EU ist hier die Ausnahme. Diese Nähe zur Praxis gibt uns Geschwindigkeit und Flexibilität. Das ist ein Standortvorteil, den wir nicht leichtfertig aufgeben sollten.
Ist eine eigene, unabhängige Börse für ein Land wie die Schweiz noch zeitgemäss?
Ja, eine eigenständige, von der Schweiz kontrollierte Finanzmarktinfrastruktur ist für uns von strategischer Bedeutung. Auch andere kleine Länder mit starken Finanzplätzen – Luxemburg, Singapur, Kanada – haben Schutzmechanismen geschaffen, um die Unabhängigkeit ihrer Börsen zu bewahren. In Singapur etwa muss jeder, der mehr als fünf Prozent an der Börse übernehmen will, eine Bewilligung der Finanzaufsicht einholen.
Börsen sind effizient, wenn sie grosse Volumen abwickeln. Das ist bei der Schweizer Börse nicht der Fall.
Ich möchte daran erinnern: Die SIX betreibt die drittgrösste Finanzmarktinfrastruktur Europas. Und dank der Übernahme der spanischen Börse BME haben wir ein wichtiges Standbein in der EU. Für unsere Kunden ist das zentral, auch weil wir rein aus der Schweiz heraus nicht schnell genug wachsen könnten, um die nötigen Investitionen zu stemmen.
Bei der spanischen Börse mussten Sie vor zwei Jahren 340 Millionen Franken abschreiben.
Die Goodwill-Abschreibung 2023 war einer aussergewöhnlichen Situation geschuldet: Die Zinsen explodierten damals, der Handelsumsatz in Europa fiel auf ein historisches Tief – das war ein Ausnahmejahr. Wichtig ist: Die spanische Börse erwirtschaftet heute rund 30 Prozent unseres Betriebsgewinnes bei 17 Prozent Umsatzanteil. Sie ist unser Brückenkopf in der EU und strategisch essenziell.
Doch die Integration der beiden Unternehmen ist immer noch nicht abgeschlossen.
Die Integration ist weit fortgeschritten, mit einer Ausnahme: die Handelsplattformen. Wir hatten vor zwei Jahren versucht, bestehende Systeme zusammenzulegen. Aber das ist teuer und lähmt die Entwicklung für ein, zwei Jahre. In einem dynamischen Umfeld wie heute wäre das keine kluge Lösung. Deshalb haben wir entschieden, die Plattformen erst zusammenzuführen, wenn sowieso eine Technologieerneuerung ansteht. Wenn alles wie geplant läuft, werden wir in den nächsten zwei Jahren eine neue Plattform haben, auf der die Kunden auf unseren Börsen in der Schweiz, Spanien und Grossbritannien handeln können.
Eine andere Baustelle, mit der Sie seit Jahren kämpfen, ist die Beteiligung am französischen Zahlungsdienstleister Worldline. Dessen Aktienkurs hat sich katastrophal entwickelt. Wäre es nicht besser, sich davon zu trennen?
Zunächst einmal: Die Transaktion mit Worldline geht auf das Jahr 2018 zurück, das war also deutlich vor meiner Zeit. Aber auch ich halte den damaligen Entscheid der SIX, das Schweizer Kartengeschäft zu verkaufen, für richtig. Die Kursentwicklung von Worldline hingegen war seither äusserst enttäuschend. Da haben Sie recht.
Warum hält die SIX trotzdem daran fest?
Weil Worldline für uns ein strategischer Partner ist. Wir sind operativ eng verflochten, nicht zuletzt aufgrund der gemeinsamen Historie im Zahlungsverkehr. Und: Wir sind überzeugt, dass der innere Wert von Worldline höher ist als der aktuelle Aktienkurs. Im Verwaltungsrat haben wir diese Frage mehrfach diskutiert.
Haben Sie bei Worldline direkt interveniert?
Worldline hat einen neuen Verwaltungsratspräsidenten, einen neuen CEO und hat den Verwaltungsrat deutlich verkleinert. Ich glaube, wir haben als Grossaktionär im Hintergrund erheblich dazu beigetragen, dass diese Veränderungen zustande gekommen sind. Nun liegt es an der neuen Führung, das Unternehmen zu stabilisieren, das angekündigte Kostensenkungsprogramm umzusetzen – und das Vertrauen des Markts zurückzugewinnen.
Anders als Worldline muss sich die SIX nicht den Kopf über einen schlechten Aktienkurs zerbrechen – die Schweizer Börse ist selbst nicht an der Börse kotiert, sondern im Besitz von 120 Banken. SIX-Kenner sprechen von einer unmöglichen Struktur.
Jedes Modell hat Vor- und Nachteile. Unser Modell – «user owned, user governed» – hat den Vorteil, dass wir extrem nah am Markt und an unseren Kunden sind. Wir spüren früh, wohin sich der Markt bewegt, und können entsprechend reagieren. Gleichzeitig bringt die Vielfalt im Aktionariat auch Herausforderungen mit sich, unterschiedliche Interessen, teilweise auch Konkurrenzverhältnisse mit den Eigentümern. Das führt zu intensiven, manchmal auch schwierigen Diskussionen im Verwaltungsrat. Aber genau dafür ist der Verwaltungsrat da: um unterschiedliche Perspektiven zusammenzubringen und gemeinsam tragfähige Entscheide zu fällen.
Ein Börsengang ist also kein Thema?
Es gibt keine Pläne für einen Börsengang. Und auch gute Gründe dagegen. Unser Modell ist zwar anspruchsvoll, aber auch sehr stabil. Wir können unsere Aufgaben gut erfüllen. Trotz oder gerade wegen dieser Vielfalt.
Ihr Hauptaktionär ist mit rund 35 Prozent die UBS, und deren CEO Sergio Ermotti hat die SIX 2017 öffentlich kritisiert. Wie ist das Verhältnis zu der Bank?
Damals ging es um die Idee, aus der SIX heraus eine Schweizer Transaktionsbank zu gründen. Diese Initiative konnte nicht realisiert werden – ich verstehe die damalige Frustration. Doch das ist acht Jahre her. UBS ist unser grösster Aktionär und gleichzeitig unser grösster Kunde. Wir arbeiten auf verschiedensten Ebenen eng zusammen: operativ, strategisch, auch im Verwaltungsrat. Ich kann mit Überzeugung sagen: Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut.
Und die UBS ist zufrieden mit der strategischen Ausrichtung der SIX?
Das müssen Sie die UBS fragen. Aber ich habe keine gegenteiligen Signale erhalten. Was mir wichtig ist: Für uns als Finanzmarktinfrastruktur-Betreiberin spielt die UBS eine Schlüsselrolle – sie sorgt für rund ein Drittel des Volumens, das über unsere Plattformen läuft. Ohne dieses könnten wir unsere Systeme nicht kosteneffizient betreiben, geschweige denn weiterentwickeln. Eine starke, international erfolgreiche UBS ist deshalb im ureigenen Interesse des Finanzplatzes Schweiz.
Wie beurteilen Sie den Zustand des Schweizer Finanzplatzes nach dem Untergang der Credit Suisse und der Übernahme durch die UBS?
Wir müssen uns nichts vormachen: Der Untergang der Credit Suisse war eine Tragödie. Und führte auch zu einem Reputationsschaden für den Finanzplatz. Aber ich nehme im Ausland oft wahr, dass dieser Schaden nicht so gross ist, wie wir hier manchmal denken, wohl auch dank der entschlossenen Rettungsaktion. Insgesamt halte ich den Schweizer Finanzplatz für robust. Natürlich steht er im internationalen Wettbewerb unter Druck. Aber seine Bedeutung ist enorm, für die Realwirtschaft, für die Finanzierung von Unternehmen, für die Standortattraktivität. In diesem Zusammenhang ist eine leistungsfähige Grossbank unabdingbar. Der Finanzplatz braucht eine international erfolgreiche UBS. Ohne sie wäre er nicht mehr das, was er heute ist.
Nach der Notübernahme der CS durch die UBS diskutiert die Politik über höhere Eigenkapitalanforderungen. Wie stehen Sie dazu?
Ich verstehe die Diskussion. Und vieles von dem, was jetzt im Raum steht, ist plausibel. Doch bei der Debatte um mehr Eigenkapital darf man nicht vergessen: Die UBS muss im Zuge der Übernahme bereits rund 20 Milliarden Franken an Eigenmitteln aufbauen – unabhängig von allem, was noch beschlossen wird. 20 Milliarden Franken sind keine Kleinigkeit. Regulierung ist wichtig, aber sie darf nicht dazu führen, dass unsere einzige globale Bank international nicht mehr wettbewerbsfähig ist.
Die Freunde von scharfen Eigenkapitalvorschriften entgegnen: Heute mag das UBS-Management vorsichtig sein – aber was ist in 15 Jahren?
Niemand kann die Zukunft voraussehen. Aber das bedeutet nicht, dass man immer vom Schlechtesten ausgehen muss. Man muss auch sehen, dass im Falle der CS die bestehenden Kapitalregeln offenbar nicht einmal angewendet wurden, sondern es wurden Ausnahmen gewährt. Nochmals: Wir brauchen eine starke, global aktive Bank, und wir brauchen eine Regulierung, die wirksam ist, aber die Banken nicht daran hindert, international erfolgreich zu sein. Diese Balance müssen wir bewahren.
Wenige Schweizer Topmanager kennen ein derart breites Spektrum an Schweizer Grosskonzernen wie Thomas Wellauer. Der 69-jährige promovierte Chemieingenieur (ETH Zürich) und Betriebswirt (Universität Zürich) war unter anderem Senior Partner bei McKinsey, CEO der Winterthur-Versicherungen, Geschäftsleitungsmitglied der Credit Suisse und Mitglied der Konzernleitungen von Novartis und Swiss Re. Seit 2020 präsidiert er den Verwaltungsrat der SIX Group. Wellauer engagiert sich daneben im Stiftungswesen, etwa als Präsident der USZ Foundation.
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