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Branchentrend: Versicherer werden unwichtiger – das sind die Gründe

Branchentrend: Versicherer werden unwichtiger – das sind die Gründe

In der europäischen Versicherungswirtschaft kommt etwas in Bewegung, wenn auch noch sehr verhalten. In der Schweiz schließen sich die Versicherer Helvetia und Baloise zusammen, bislang Nummer fünf und sechs im Markt. Beide sind auch im deutschen Markt sehr aktiv. Hierzulande haben Barmenia und Gothaer ihre Fusion gerade abgeschlossen, Süddeutsche Krankenversicherung und Stuttgarter Lebensversicherung wollen ebenfalls zusammengehen.

Viele andere Gesellschaften verhandeln miteinander. „Es bewegt sich etwas im europäischen Markt“, sagt Johannes Bender, Direktor bei der Ratingagentur Standard & Poor’s. Neu ist laut Bender, dass nicht nur geredet wird, sondern auch Abschlüsse gemeldet werden können. Bewegung ist gerade in Deutschland dringend nötig. Der Markt ist stark zersplittert, viele Unternehmen haben veraltete Datensysteme und müssen sich heftige Kritik gefallen lassen, weil sie nach Schäden oft Wochen brauchen, bis sie zahlen.

Kein Wunder, dass die Versicherer an Bedeutung verlieren. Beispiel private Altersvorsorge: 2015 nahmen die Lebensversicherer 88 Milliarden Euro an Prämien bei ihren Kunden ein. 2024 waren es mit 94 Milliarden Euro nur magere 6,8 Prozent mehr. Im selben Zeitraum steigerten die privaten Haushalte ihre Sparsumme von 184 Milliarden Euro auf 292 Milliarden Euro, satte 59 Prozent. Die Deutschen sparen deutlich mehr, aber nicht mit Lebensversicherungen. Auch in der Schadenversicherung, in der Kunden Autos, Gebäude, Unfall-, Haftpflicht- und Industrierisiken absichern, stagniert die Nachfrage. Langfristig sinkt sie sogar: Vor 20 Jahren machten die Prämien in diesen Sparten 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, 2024 waren es nur noch 2,1 Prozent.

Selbst Industriekonzerne haben ihre Probleme mit den Versicherern. Die Industrie spürt viele Risiken: Rohstoffe werden teuer, Märkte brechen wegen Zöllen oder aus anderen Gründen weg, es fehlt an Fachkräften, die Lieferketten sind instabil, der Klimawandel macht Sorgen und Cyberangriffe bedrohen die Dateninfrastruktur. Bei vielen dieser existenzbedrohenden Risiken spielen die Versicherer nur eine sehr kleine Rolle. In den Bereichen, bei denen die Unternehmen wirklich Schutz brauchen, halten sie sich spürbar zurück. Das gilt insbesondere für die Cyberversicherung, bei der es großen Firmen sehr schwerfällt, die nötigen Versicherungssummen einzukaufen.

Die Versicherer verlieren ihre Kunden, sie werden für diese Gesellschaft immer unwichtiger. Das liegt zum größten Teil an selbst erzeugten Problemen. Einige der wichtigsten: Es gibt zu viele Anbieter. Von den 71 Versicherungskonzernen in Deutschland, die mehr als 50 Millionen Euro Jahresprämie bekommen, haben 49 einen Marktanteil von weniger als einem Prozent. Aber alle haben eine IT- und eine Rechtsabteilung, Vertriebsleiter und einen hoch bezahlten Vorstand.

Dazu kommt die Macht großer Vertriebe und Maklerverbünde, die den Versicherern in vielen Fällen vorschreiben, welche Art Policen mit hohen Provisionen sie anbieten sollen. Alles zusammen sorgt für ausufernde Kosten. Die Deutschen leisten sich ein Heer von 181 000 Versicherungsvermittlern. Frankreich kommt mit 64 000 aus, die Niederlande mit 7000. „Hohe Kosten können darauf hindeuten, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis von Versicherungsanlageprodukten nicht angemessen ist“, stellt die Finanzaufsicht Bafin fest.

Jedes Jahr zahlen die Versicherer in der Lebensversicherung deshalb rund acht Milliarden Euro Provision an Makler, Vertreter und Banken. Die Gesellschaften holen sich jeden Cent davon von ihren Kunden zurück, entsprechend niedriger ist deren Rendite für die private Altersvorsorge. Auch Schadenversicherungen sind alles andere als effizient. 25 Prozent bis 35 Prozent der Prämien werden für Verwaltungs- und Vertriebskosten ausgegeben. Dazu kommen noch der Aufwand für die Schadenbearbeitung, die Versicherungssteuer sowie der Gewinn. Weniger als die Hälfte der Prämien-Milliarden fließt in Form von Schadenzahlungen an die Kunden zurück: Kunden zahlen deutlich zu viel.

Die IT vieler Gesellschaften ist in einem erbarmungswürdigen Zustand. Julia Wiens, Chefin der Versicherungsaufsicht bei der Bafin und selbst früher Versicherungsvorständin, beobachtet „teilweise schwerwiegende Mängel“ bei den IT-Systemen. Die Aufsicht drängt auf Modernisierung, dazu kommt der Druck der Kundinnen und Kunden. In den Zeiten von Amazon und Zalando erwarten sie schnelle Bedienung, sie wollen nicht Monate warten, bis ein Anliegen erledigt ist.

Der Vormarsch der künstlichen Intelligenz in Gesellschaft und Wirtschaft verschärft das Problem. Auch Versicherungskunden nutzen Chat-GPT oder Perplexity, dadurch wird das Informationsungleichgewicht zwischen Versicherern und Kunden kleiner. „Die wenigsten Versicherer werden die technologische Transformation ganz allein schaffen“, glaubt Stephen Voss, Chef des Digitalversicherers Neodigital.

Ein Heer von Vermittlern will in Deutschland mitverdienen

Größere Gruppen bilden, Kosten senken und Vertriebe entmachten, das sind die wichtigsten Schritte, wenn die Unternehmen eine Zukunft haben wollen. Manche Gesellschaft wird auch verschwinden. Jüngstes Beispiel ist der Versicherer Element in Berlin, der in die Insolvenz gegangen ist. Dazu kommt eine dringend notwendige Transparenzoffensive. Versicherungsverträge müssen in einfachen Worten erklären, was versichert und was nicht versichert ist und welche Kosten anfallen. Bei Schäden müssen die Gesellschaften offen und schnell kommunizieren. Gerade in der Kfz-Versicherung müssen viele Geschädigte zurzeit wochenlang warten, bis ihr Fall bearbeitet ist.

„Oft sind Versicherer schwer erreichbar und Kunden haben keine Information, in welchem Bearbeitungsstadium ihr Schaden gerade ist“, beklagt Verbraucherschützerin Bianca Boss, Vorstandsmitglied im Bund der Versicherten. „Die Schadensbearbeitung sollte digital, einfach und transparent sein.“ Verbraucher wünschen sich auch eine deutlich schnellere Regulierung, sagt Boss.

Ein Grund, warum das aktuell nicht passiert, ist der Fachkräftemangel in den Schadenabteilungen. Allerdings ist der nicht vom Himmel gefallen. In den schadensarmen Jahren der Pandemie haben die Versicherungsvorstände nicht genügend Spezialisten angestellt oder ausgebildet. Als 2023 die Schadenszahlen wieder anzogen, gab es plötzlich Hunderttausende unbearbeiteter Mails und Briefe bei den Versicherern.

Inzwischen sind die Postberge deutlich kleiner geworden. Aber das Grundproblem bleibt: Die Systeme vieler Versicherer passen nicht mehr in die heutige, digitale Zeit. Das gilt nicht nur für Mini-Gesellschaften, auch große Anbieter wie Allianz, Ergo, Axa oder Zurich kämpfen mit dem technologischen Wandel. Und einen Weg vorwärts, wie sie die Versicherungsmüdigkeit der Kunden bekämpfen können, haben auch sie nicht.

Die Allianz ist der deutsche Konzern mit der höchsten Dividendenausschüttung, die Aktionäre erhalten für das Jahr 2024 mehr als 6 Milliarden Euro. Aber das ist kein Zeichen der Stärke: Die Allianz muss mit hohen Ausschüttungen und Aktienrückkäufen ihre Investoren bei Laune halten. Ein echtes neues Geschäftsmodell für die Versicherung der Zukunft, mit dem der Konzern Kunden und Anleger begeistern kann, fehlt auch beim Marktführer.

süeddeutsche

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